Zu den Skulpturen von Jeroen Meijs

Wir wenden uns der Bildhauerei zu, weil wir unfähig sind. erwachsen zu werden. Und das ist ein Segen, wenn auch versteckt und verborgen, doch Tatsache ist. dass wir unser Leben lang Bettler bleiben. 1

Jeroen Meijs möchte die Vertrautheit mit der Wirklichkeit stören, möchte umgängige Denkmuster entnerven 2 , um einen Zugang zu einer bezauberten Welt zu schaffen. Dabei schafft er Figuren, deren sichtbare Seite etwas anrührt, das nicht sichtbar ist, nicht sichtbar sein kann. lhr Formenvokabular folgt einer klassischen skulpturalen Grammatik, indem er nahezu mimetisch, ,nach der Natur', arbeitet. Er erfindet keine neuen Formen und dennoch sind es eigentümlich eigenständige Wesen: hermetisch und paradox. Nach außen hin formulieren sie sich als Körper, doch im Inneren haben sie selbst keinen Halt, kein Skelett. Sie finden ihre Substanz in der Oberfläche, die den Gedanken und die Emotionalität des Bildhauers reflektiert, worin metaphysische Erfahrungen es aufnehmen gegen die vertraut wissen schaftliche Kenntnis 2.

Demgemäss sind die Figuren und Figurentragmente als Universalien angelegt und ganz nach innen gewendet. Noch ohne nähere Bestimmung und Prägung und dennoch Wesen, deren körperliche Masse und damit Präsenz ihre halluzinatorische Entrücktheit paradox verstärkt. Tatsächlich befinden sich die Figuren im (luft-)leeren Raum.
Ihre scheinbare Bodenhaftung, ihr labiler Schwebezustand oder ihre komplizierte Ausbalancierung erweisen sich als vordergründig und eigentlich irreal. ln Wahrheit sind sie isolierte Körper im Nichts, Konstruktionen für den freien Fall in den transzendentalen Raum einer Idee. Denn transzendent werden sie durch ihre Entrückung aus der (Alltags-)Welt, durch ein Aufscheinen ihrer sinnbildlichen Qualität. Der inhaltliche Leitfaden einer persönlichen Geschichte und Empfindung wird zur Metaphor des Seins transformiert.

Als eine private Kosmologie verlorengegangener Planetensysteme so sind Embryo und die Kindsköpfe zueinander in Beziehung gesetzt: für sie besteht- wie auch im künstlerischen Balanceakt - immer die Gefahr, versehrt zu werden. Mit überspannter Fruchtblase, als ungeöltnetes Päckchen ein kleiner Homunculus, versponnen in seinem grauen Marmorkokon. Ein Wesen unklarer Herkunft, noch unbestimmt und ungeprägt, wie gerade erst erschaffen, mit den Konturen eines Pantoffeltierchens und noch nicht viel mehr Bewusstsein. Sensibel wie Schnee und Zucker: ein anderes Köpfchen mit einem Blutgerinnsel im Alabasterantlitz und einer Vertiefung im Schädel wie eine offene Fontanelle. Dabei aber das leise Lächeln eines kleinen Buddha, ganz so, als ob es im Sein noch ganz in sich selbst versunken ist. Transparent, magisch erscheinend, gibt es doch sein Geheimnis nicht preis und lässt auch die Frage offen, ob es der Existenz in dieser besten aller Welten gewachsen ist.

Eine amorphe, anamorphotisch verzerrte Masse ent- puppt sich als gigantisches embryonales Antlitz mit wulstigem Kinn, Mund und grotesk geschwollenen Nasenlöchern. ln der quecksilberfarbenen Oberfläche des polierten Aluminiums sieht sich der Betrachter seinem eigenen ebenso verzerrten Antlitz gegenüber. Nach Levi-Strauss, auf den sich Meijs beruft, birgt jedes Kind bei seiner Geburt in embryonaler Form die Summe aller Möglichkeiten in sich. Sein Denken bildet eine Art universales Substrat, das die Kommunikation zwischen unvollständig gefestigten Strukturen noch möglich macht 3. Jeroen Meijs nutzt das Formenrepertoire des Manierismus, um starke emotio- nale Energien zu verarbeiten und freizusetzen: einer- seits sein ,Unbehagen an der Kultur' und eng damit verbunden die ldealisierung des Ungeborenen als Metapher eines unbegrenzt schöpferischen Potentials. Fragilität und Versehrtheit sind konzeptuelle Elemente seines Werks. Alles hält sich labil in der Schwebe, kaum dass es berührt werden darf, um sein Gleichgewicht nicht zu verlieren. Der Rumpf des Albatross ist versengt, die Samenkapseln durchstoßen und der luzide Alabasterkopf trägt eine offene Wunde. Fragilität steht für Verwundbarkeit 4, behauptete schon Louise Bourgois. Beide sind Konstanten seiner Arbeit und korrespondieren mit der unvermuteten Bodenständigkeit, dem Widerstand des verwendeten Materials, das wie für eine Ewigkeit gedacht scheint.

Jeroen Meijs Skulpturen sind Werke, in denen wir die Bedingungen unserer Existenz und unserer Kultur reflektiert sehen. Ungeachtet ihrer physischen Anwesenheit bezeichnen sie einen virtuellen Ort- sei es der Zufluchtsort eines Gedankens oder mehr noch eines Idealismus. ln ihrer metaphysischen Verdichtung geben sie ein Bild, das in der Lage ist, in uns Erinnerungen und Empfindungen zu wecken und deren Virulenz in eine offene Gegenwart zu verwandeln.

Helga Scholl

  1. Louise Bourgois im Gespräch mit Christiane Meyer- Thoss, in; Christiane Meyer-Thoss, "Louise Bourgois Zürich 1992, S. 24
  2. Jeroen Meijs 1996
  3. Claude Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt 1993, S. 159f
  4. Louise Bourgois ibd., S. 43.